Geschichte der Kantorei von Wilhelm Böhm

Startseite ›  Kirchenmusik ›

Geschichte der Kantorei

GOTTES LOB SOLL STETS IN DER KIRCHE ZU
HÖREN SEIN (Martin Luther)

450 Jahre Kantorei St. Johannis zu Schweinfurt
Festvortrag

von

Wilhelm Böhm

Sehr verehrte Damen, meine Herren,

es war ein in heutigen Zeiten nicht selbstverständlicher, weiser Entschluss einer großzügigen Kirchenverwaltung, die Johanniskirche auch an Werktagen geöffnet zu halten, für Kunst- und Geschichtsfreunde, für die Gläubigen. Nun gibt es etwas ganz Beson­deres, Ungewöhnliches, Nicht-Alltägliches mitten im Getriebe unserer Stadt, einen Anlass – auch für mich – immer wieder einmal einzutreten, sei es auch nur für Minuten, in den hohen, feierlichen, weilen Raum. Dies ist ein Ort der Besinnung, der Stille, der Erinnerung. Stimmen beginnen zu sprechen aus der Erinnerung – Stimmen von geistlichen Lehrern, die in der Jugendzeit uns zum Nachdenken zwangen, unser Herz berührten. Auch Stimmen von Menschen, die uns nahe standen, von Freunden, Verwandten – meine Eltern wurden hier 1928 getraut. Hätten wir dabei Frau Wößners schönes, kluges Buch über die Johanniskirche zur Hand, würden die Steine noch deutlicher zu uns sprechen, die Formen, Figuren, Wappen, Zeichen…

In besonderer Weise berühren mich Erinnerungen an die Musik in diesem Raum, an den Klang der Orgel, die liturgischen Gesänge der Geistlichen, die Choräle der Gemeinde, besonders an den viel­stimmigen Chor der Kantorei, ein Gesang, der nun seit viereinhalb Jahrhunderten erklingt zu Gottes Lob, der nie verstummte, auch nicht in Zeiten der Not, der Bedrohung, der Zerstörung. Hier wird die Forderung des Reformators Martin Luther erfüllt, dass „Gottes Lob stets in der Kirche zu hören sein“ solle. Die evangelische Kantorei feiert in diesen Tagen ihr 450. Jubiläum mit einer Reihe glanzvoller Veranstal­tungen.

Ich danke Ihnen für die ehrenvolle Einladung, über die Geschichte der Kantorei zu Ihnen zu sprechen, als Vorsitzender des Historischen Vereins, einer Vereinigung, deren Ziel es ist, das Geschichts­bewusstsein der Bürger zu wecken und zu pflegen, die Geschichte der Stadt Schweinfurt und ihres Umlandes zu erforschen und darzustellen, als Beispiel für deutsche und europäische Geschichte.

Das Jahr 1554

Der Grund, dieses Jubiläum jetzt, im Jahre 2004, zu begehen, liegt darin: Für das Jahr 1554 ist der erste Kantor bei St. Johannis, Jacob Rücker, urkundlich bezeugt – der erste in einer Reihe von 37 Namen.

1554 – das ist eine Jahreszahl, die mit brandroten Lettern eingezeichnet ist in die Annalen unserer Stadt. Am 13. Juni 1554 ging das mittelalterliche Schweinfurt in Feuer und Verwüstung unter, en Opfer des skrupellosen Ehrgeizes des Renaissancefürsten Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach, der die Stadt gegen den Willen der Bevölkerung und des Rates im Handstreich besetzt, zu seinem Stützpunkt gemacht hatte. Von hier aus unternahmen er und seine Spießgesellen ein Jahr lang Raubzüge, die den Gemeinden des Umlandes hart zusetzten.

Als der Vabanque-Spieler Alcibiades schließlich verspielt hatte und heimlich die Flucht aus der Stadt ergriff, schlugen die Wellen des Unheils über Schweinfurt zusammen – die Raubgier der Landsknechte, besonders aber die Rachegelüste der Bauern der Umgebung.

Neun Tage lang Plünderung und Brand, selbst die Gräber wurden durchwühlt auf der Suche nach Beute. Am Ende war die stolze Reichsstadt eine rauchende Trümmerwüste, alle Häuser – außer einiger elender Hüttchen – verbrannt, ein Großteil der Einwohner geflohen, in alle Winde zerstoben, nur das nackte Leben rettend – man denke an das Schicksal der edlen Olympia Morata.

Die in der Stadt Gebliebenen hausten in Kellern und Löchern – wie viele nach dem 2. Weltkrieg – Seuchen rafften Aberhunderte dahin, besonders die Kinder.

Auch Jacob .Rücker, der erste bekannte Kantor, musste fliehen, nach Coburg, fand dort in der Stadt des Kurfürsten von Sachsen Zuflucht und Brot.

Eigentlich recht traurige Nachrichten vom Anfang der Kantorei: der erste Kantor auf der Flucht. Im Ganzen betrachtet aber doch ein guter Anfang. Denn von den Bewohnern von Schweinfurt gilt, was Henry Kissinger nach dem Ende des 2. Weltkrieges von den Deutschen sagte: „Sie resignieren nicht, zeigten Mut und Kraft, begannen wieder von vorne.“

Schweinfurt und die Reformation

Um die Zusammenhänge besser zu erfassen, müssen wir 12 Jahre zurück gehen, in das Jahr 1542. In diesem Jahr hatte der Rat der Stadt beschlossen, sich der Reformation anzuschließen, das evangelisch-lutherische Bekenntnis zur Staatsreligion in Schweinfurt zu erheben. Das war recht spät – ein Vierteljahrhundert nach dem Thesenanschlag. Die mächtige Reichsstadt Nürnberg hatte diesen Schritt schon 1525 vollzogen.

Schweinfurt war in einer besonders schwierigen Lage.  Die Reichsstadt, mit knapp 5000 Einwohnern von mittlerer Größe, lag wie eine Insel im Gebiet des Fürstbischofs von Würzburg, dem die freie Stadt immer schon „ein Dorn im Auge“ gewesen war. Auch der oberste Schutzherr der Stadt, Kaiser Karl V. , war ein Gegner der Reformation. Dies zwang den Rat zu äußerster Vorsicht.

Die Bürgerschaft freilich war schon lange evangelisch gesinnt, „hatte zum Wort Verlangen“ (Volkslied), forderte vom Rat die Annahme der neuen Lehre. Beim Fürstentag von 1532 in Schweinfurt standen die Bürger dichtgedrängt vor der Kirche „Unserer lieben Frauen“, wo Georg Spalatin für die evangelischen Fürsten predigte. „Und die Kindlein“ sangen Lutherfieder „auf den Straßen“. Jahrelang gingen viele Bürger zum evangelischen Gottesdienst, zum Abendmahl in beiderlei Gestalt, in das Reichsdorf Sennfeld oder das hennebergische Mainberg.

Der Rat der Stadt, ein Gremium von 44 Ratsherren mit verschiedenen Arbeitsbereichen, geführt von zwei vierteljährlich wechselnden Bürgermeistern, leitete die städtische Politik, auch die Kirchenpolitik; die Bevölkerung hatte keine Mitbestimmungsrechte. So konnte der Rat jahrelang dem Druck der öffentlichen Meinung widerstehen, aus Vorsicht, gegen die eigene Überzeugung, denn auch die Ratsherren waren evangelisch gesinnt.

Der Rat wagte den Bruch mit der katholischen Kirche und dem Kaiser erst, als Karl V. einem Religionsfrieden in Nürnberg zugestimmt hatte, im Hinblick auf die drohende Türkengefahr.

Behutsamkeit des Rates beim Glaubenswechsel

Mit Rücksicht auf die Machtverhältnisse ging der Rat vorsichtig, behutsam vor. Es gab in Schweinfurt keine Bilderstürmerei, keine gewaltsame Vertreibung katholischer Priester. Die Bürger stimmten „mit den Füßen“ ab, die Johanniskirche stand leer, solange dort katholische Priester den Gottesdienst gestalteten, alles strömte in die Salvatorkirche zur Predigt des „Schweinfurter Reformators“ Sutellius,

Kein Bildersturm also in Schweinfurt. Ich erinnere mich an das Erstaunen einer katholischen Religionslehrerin, die aus dem hintersten Niederbayern an unsere Schule versetzt worden war, als sie zum ersten Mal die Johanniskirche betrat: „Da sind ja Marienstatuen und Heiligenbilder – das ist eine katholische Kirche?“ Es dauerte ein Weilchen, bis ich, an die schönen Figuren von Jugend an gewöhnt, verstand: Die Dame dachte an reformierte Kirchen in der Schweiz oder Holland, in denen keine Bilder geduldet wurden, die leergefegt waren.

Die Reformation in Schweinfurt und in den fränkischen Reichsstädten war gemäßigt, ging mit den Bildwerken der alten Zeit schonend um, zur Freude heutiger Betrachter.

Wiederbeginn

Das Stadtverderben von 1554 war 12 Jahre nach dem Übertritt der Bürgerschaft zum neuen Glauben hereingebrochen. Fest steht aber: Dieser Glaube hatte Bestand, keine Zweifel an der Richtigkeit des Übertritts wurden laut. Die Johanniskirche, ohne Dach, mit zerschossenem Turm, im Innern verwüstet, wurde zum Zentrum des Wiederaufbaus. Denn der Rat tagte in der Sakristei, es gab keine anderen Räume in der zerstörten Stadt. Hier, im Raum der Kirche, wurden die ersten Maßnahmen zum Wiederaufbau beschlossen.

Das erste öffentliche Gebäude, das wieder errichtet wurde, war die Schule. Ein schlichtes Gebäude war 1555 bereits in Gebrauch. Hier wurde die Jugend intensiv im geistlichen Gesang unterrichtet, denn die Schüler der Lateinschule gestalteten, zusammen mit ihren Lehrern, besonders mit dem Kantor, dem „Vorsänger“, den Gottesdienst, die Liturgie, bildeten die Kantorei. Dies war der eigentliche Beginn der Institution, deren Jubiläum wir in diesen Tagen feiern.

Der Feind hatte die Häuser verbrannt, die alten Urkunden vernichtet.
Doch die Gesetze der Stadt, besonders die „Kirchenordnung“ des
Sutellius von 1543, blieben in Kraft. In diesem Gesetz war die „Kantorei“ als Einrichtung verfassungsrechtlich verankert. Dies entsprach dem Geist der evangelischen Lehre Martin Luthers.

Die Bedeutung der Musik für den Reformator

Musik hatte für Martin Luther einen hohen Rang. „Ich gebe nach der Theologie der Musik die höchste Ehre.“ Dies hatte Auswirkungen auf die Gestaltung des evangelischen Gottesdienstes. Man sagt, Luther habe seine Kirche zu einer „singenden“ gemacht, er hat selbst Texte und Melodien geschaffen, die viele Menschen ergriffen. Der Jesuit Conzenius äußerte: „Luthers Gesänge haben mehr Seelen umgebracht als seine Reden und Schriften.“ Luther war auch kein radikaler Neuerer auf dem Gebiete der Liturgie, er ließ vieles bestehen vom ‚Ritus der alten Kirche. „Wenn nur das Wort regiert durch das wir das Gewissen frei machen.“ Kyrie – Gloria – Credo – Sanctus gliedern, in deutscher Sprache, bis heute den evangelischen Gottesdienst.

Freilich gab der Reformator der alten Form einen neuen Inhalt. Dor mündige evangelische Christ, zur Würde des allgemeinen Priestertums erhoben, nicht mehr vom Empfang des Abendmahlskelches ausgeschlossen, antwortet auf Gottes Wort, „redet mit Gott“ in Gebet und Gesang. Der deutsche Choral erfuhr in der neuen Kirche intensive Pflege. Bis 1534, als das erste katholische Gesangbuch erschien, gab es bereits 17 lutherische Gesangbuchausgaben.

Die Schweinfurter Gottesdienstordnung von 1543

Im Stadtarchiv befindet sich eine Ausgabe der ersten evangelischen Kirchenordnung, ein schön gedruckter Band der Renaissance. Auf dem Titelblatt befindet sich ein alter handschriftlicher Vermerk, dass Dr. Martin Luther diese Schweinfurter Ordnung nicht „approbiert“ habe, da sie „zu sehr nach dem Papsttum schmecke.“

Dies erscheint glaubhaft, wenn man die liturgische Ordnung liest, die der Rat genau vorschreibt. Die Liturgie für die (übrigens täglich stattfindenden) Gottesdienste ist ganz in Latein gehalten, die Schulknaben der Kantorei singen in Latein. Der deutsche Choral spielte in dieser ersten Schweinfurter Gottesdienstordnung kaum eine Rolle.

Wo bleibt hier das „Reden der Gemeinde mit Gott“ im Gesang, das der Reformator Marin Luther so dringend wünschte?

Einspruch der Geistlichkeit

Schon der Nachfolger des Sutellius, Pfarrer Rupprecht, empfand dies als Mangei, übte scharfe Kritik: „Der Chor singt 1000 lateinische Vespern“, und das einfache, gläubige Volk geht „ungetröstet, ohne alle Frucht, umsonst und vergeblich“ aus der Kirche, dies sei „gräuliche Sünde und gottloses Wesen.“Einen solchen Ton lässt sich der Rat nicht gefallen. 1562 wird Pfarrer Rupprecht „verabschiedet“, d. h. entlassen. Rat und Lateinschule, so Simon Schöffel, haben über den Pfarrer und die Gemeinde gesiegt.

Denn in diesem Streit zwischen Rat und Geistlichkeit stand die Schule ganz auf der Seite der Obrigkeit. Schulvorsteher und Kantor Epiphanius Kürschner stellte fest: „Es gebührt der Schule (also der lateinisch singenden Kantorei) und nicht der Kirche (d.h. der Gemeinde) und den alten Weibern zu singen.“

Es erscheint eigenartig, dass der streng evangelisch gesinnte Rat der Stadt Schweinfurt – die theologischen Ausführungen der Kirchenordnung zeigen dies – ein Grundanliegen der Reformation nicht verstand, nicht verwirklichte. Allein Luthers geniale Übersetzung der Bibel zeigt doch, wie dem Reformator die Sprache des Volkes am Herzen lag, der freie Zugang jedes Christen zu Gottes Wort, zur Heilsbotschaft. Es wird noch einige Zeit dauern, bis die deutsche Sprache auch im Gottesdienst zu Schweinfurt selbstverständlich wird, Gemeinde und Kantorei nicht gegeneinander, sondern miteinander wirken.

Der Rat, die „Obrigkeit“, war die oberste Instanz in der Reichsstadt auch in Fragen der Kirche und der Gemeinde. Auch die Reformatoren legten Wert auf eine starke, an Gottes Wort orientierte Ordnung und Regierung, nach den Erfahrungen, die man mit Schwärmern und Wiedertäufern gemacht hatte, – verwirrten Geistern, die die von Luther verkündete „Freiheit eines Christenmenschen“ missverstanden, missbrauchten. Georg Spalatin, enger Mitarbeiter Martin Luthers, schrieb nicht lange nach seiner Predigt in Schweinfurt im Jahre 1532 an den Rat unserer Stadt:

„Die Welt muss Obrigkeit und Richter haben …., um das Böse zu strafen.. .zur Erhaltung des Friedens …. Es würde sonst einer den anderen fressen, denn die Welt ist des Teufels Hof und wie ein großer, wilder Wald voll böser, wilder Tiere, die man immerzu würgen muss.“

Der Schweinfurter Rat hat diese Unterweisung beherzigt. Er wachte über Bereiche des Lebens, die wir heute als „Privatsphäre“ bezeichnen würden.

Ein Beispiel: Ein angesehener Bürger war mehrere Male nicht zum Abendmahl gegangen, da er mit seiner Schwiegermutter in bösem, unversöhntem Streit lebte und sich nicht würdig des Tisches des Herrn fühlte. Der Rat verwies ihn der Stadt. Gewissensskrupel waren für ihn sichtlich keine Entschuldigung.

Im Ganzen war in Schweinfurt das Verhältnis zwischen Geistlichkeit und Regierung ausgewogen, die Pfarrer erkannten den Rat als die von Gott gesetzte Obrigkeit, „die Gewalt über uns hat“, durchaus an. Doch kommt es immer wieder einmal zu Spannungen. Während des Dreißigjährigen Krieges ermahnte der Rat die Geistlichen, die üble Aufführung der Besatzungssoldaten, besonders des berüchtigten Grafen Lodron, nicht zu offen und rückhaltlos in den Predigten zu kritisieren, da sonst schlimme Zwangsmaßnahmen zu befürchten seien. Doch die Geistlichen hielten sich an Gottes Wort und Gebot. Dies erinnert mich an eine Predigt von Dekan Fabri in der Johanniskirche nach 1945, in der er Übergriffe der US-Besatzung schart missbilligte. Dies brachte dem würdigen Kirchenmann, meinem verehrten Lehrer, Verhaftung, Verhör durch den Geheimdienst CIA, Arrest ein.

Die Lateinschule zu Schweinfurt

Kehren wir in das Schweinfurt nach 1554, zu den Wurzeln und Grundlagen der Kantorei St. Johannis zurück!

Schule und Kantorei arbeiteten auf das engste zusammen. Die Schweinfurter Lateinschule zur Zeit der Reformation hatte einen sehr guten Ruf. Nach dem Stadtverderben mit einem stofflichen Neubau ausgestattet, später, ab 1634, mit einer gymnasialen Oberklasse versehen, war sie „eine Quelle des Segens und der geistigen Bildung für die Stadt und Umgebung“(Völcker). Die Schule wuchs selbst in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges: Sie hatte 1626 215, im Jahre 1634 304 Schüler. Die erste in Deutsch geschriebene Schulordnung von 1617 nennt die Schule „ein Würtzgärtlein voller edler Pflänzlein.“

Schule und Kantorei

Ein „Pflantzgärtlein“ auch und besonders für den Nachwuchs der Kantorei. Die Musikpflege nahm in der Lateinschule breiten Raum ein. Das war ganz im Sinne des Reformators: „Einen Schulmeister, der nicht singen kann, schaue ich nicht an.“ Schule und Kirche waren eng

verbunden. Die Schule stellte den Kantor und den Kirchenchor. Besonders die Internatsschüler des „Alumneums“ waren geschulte Sänger. Täglich zogen die Singschüler ,,zween und zween ohne Unfug und Geschwätz“ (so die Vorschrift) vom Schulhaus zur Kirche und zurück.

Die hohe Wochenstundenzahl für das Fach Musik wurde, nicht immer zur Freude des Rektors, aufgestockt, wenn große Anlässe vorhanden waren. Schulfeiern, hohe Kirchenfeste, Staatsfeiern bei Geburtstag oder Tod des Kaisers wurden musikalisch reich ausgestaltet.

Die Oberleitung der Schule lag in der Hand des Ersten Pfarrers (heute „Dekan“ ). Er übte (zusammen mit zwei Ratsmitgliedern, den „Schulherren“) die Aufsicht über die Schule aus. Der Kantor war stets Lehrer der Schule, im Rang der nächste hinter dem Schulleiter, dem Rektor. Das Berufsbild des Kantors ist von der Reformation geprägt. Die Kantoren waren in evangelischen Städten künstlerisch hoch-qualifizierte, gesellschaftlich angesehene Bürger und Fachleute. In Schweinfurt ist ein bezeichnendes Beispiel Paul Rosa, der zum Ratsherrn und Reichsvogt, dem höchsten Amt der Stadt, aufstieg.

Aufgaben des Kantors

Ein Schreiben des Rates vom 14. September 1558 an den Kantor Epiphanius Kürschner, denselben, der den „alten Weibern“ das Recht zum Gesang in der Kirche entziehen wollte, enthält eine Art „Dienstordnung“ des Rates für Kantoren.

Pflichten: Der Kantor Ist Lehrer an der Lateinschule, „soll die Jugend mit Fleiß /ehren und unterrichten“, nicht nur in Musik, sondern auch in anderen Fächern, z. B. in Latein, damals die Weltsprache. (Johann Sebastian Bach war auch Lateinlehrer!)

Der Kantor soll die Kantorei „an seiner Kirchen versehen“, soll den Gottesdienst „mit den Jungen und dem gemeinen Volk singen, wie es Kirchenordnung und Prediger anzeigen“.

Der Kantor „soll sich den Predigern gegenüber gehorsam und freundlich erzeigen“. (Der Prediger inspizierte ja auch seinen Schulunterricht!)

Stets soll der Kantor „nach schuldiger Gebühr arbeiten“, sonst soll er erfahren so der Rat – „dass uns dasselbige missfallen soll.“

Kantor Kürschners Lohn: 50 Gulden Jahresgehalt, (heute einige wenige tausend Euro), dazu Naturalleistungen – ausreichend Korn für das tägliche Brot, Brennholz für Ofen und Herd. Wichtig: Der Kantor ist freigestellt von den üblichen Bürgerpflichten, von Wachdienst, Torhüten, Fronarbeit. Er ist also gegenüber dem Normalbürger privilegiert,

Dazu kamen Zusatzeinnahmen („Accidentien“ ), Honorare für Hoch­zeiten und Beerdigungen. Diese Einnahmen waren für den doch recht karg besoldeten Kantor wichtig, doch sie schwankten. Ein Beispiel aus Leipzig: Der große Thomaskantor Johann Sebastian Bach klagt in ‚einem Schreiben, dass seine „Accidentien“ so unregelmäßig seien. Sie seien gut, „wenn es etwas mehrere Leichen (d.h. Beerdigungen) gibt, ist aber gesunde Luft“, so sinken die Einnahmen ab; er habe im letzten Jahr „100 Reichstaler Verlust“ gehabt – es starben weniger Leute in Leipzig. – Auch ein Genie lebt nicht von der Luft, hat Sorge um das tägliche Brot.

Manchmal freilich lächelte dem großen Kantor Bach das Glück. Ein fremder Gesandter, ein Graf Keyserlingk, litt an Schlaflosigkeit, wollte sich von seinem Hausmusikus des Nachts auf dem Cembalo vorspielen lassen. Deshalb bestellte der Graf bei Bach ein Werk für Cembalo. Der Musiker hieß Goldberg – so entstanden die berühmten „Goldberg-Variationen“. Als Lohn überreichte der Graf dem Thomaskantor einen goldenen Becher mit 100 Goldstücken – ein fürstliches Honorar.

Auch die Schweinfurter Kantoren brauchten und hatten „Accidentien“. Solch große Herren mit solch seltsamen nächtlichen musikalischen Gelüsten waren freilich äußerst rar in unserer lieben Stadt Schweinfurt.

Wären heutige Kantoren (und Kantorinnen) zufrieden mit den geschilderten Bedingungen? Fest steht: Der Empfänger der „Dienstvorschrift“, Epiphanius Kürschner, gab nach zwei Jahren den Dienst auf. Allerdings hatte er „stattlich“ geheiratet und widmete sich fortan nur noch der Verwaltung seines Vermögens.

Zusatzeinnahmen. Auch in neuerer Zeit, als mein Großvater Andreas Böhm Dorflehrer in Zell war (um 1914), bildete die Heirat mit einer reichen Müllers- oder Bauerntochter eine Möglichkeit, das schmale Lehrerseinkommen zu verbessern. Bei Großvater war es eine Sägewerksbesitzerstochter, bei seinem Freund, Lehrer und Organist im Nachbardorf, ein reiches Bauernmädchen. Manchmal freilich war ein Preis zu entrichten. Großvater erzählte, dass er einmal seinen Freund besuchte und die im Garten tätige Frau fragte, wo denn ihr Mann sei. Antwort: „Drin hockt‘ er und liest wie Ochs.“ Ob es dem Epiphanius auch so ging, diesem Verächter des Frauengesangs in der Kirche?

Ein Spiegel der Stadtgeschichte

Musikpflege und Entlöhnung von Kantor und Lehrer, so zeigen es

die Schweinfurter Quellen, hingen stark von den Zeitumständen ab, der Lage der öffentlichen Kassen.

Als nach 1585 Hunderte von Glaubensflüchtlingen, von Julius Echter im Zuge der Gegenreformation vertrieben, in Schweinfurt Zuflucht fanden und Wohlstand in die Stadt brachten, wurden reichlich neue Instrumente und Noten vom Rat für die Kantorei angeschafft. Im Dreißigjährigen Krieg sogen Jahrzehnte lang wechselnde Besatzungen die Stadt aus, Tausende von Einwohnern starben an der Pest. 1640 konnten die Gehälter nicht mehr ausgezahlt werden. Bittere Not bestimmte auch das Verhalten der Lehrer. Nach dem Dreißigjährigen Krieg, als eine Blüte der evangelischen Kirchenmusik und des Kirchenliedes begann, flossen der Kantorei wieder Mittel zu. Denn zweifellos war der Schweinfurter Rat stets bemüht, nach seinen Kräften das Niveau der Kirchenmusik zu halten und zu heben.

Namen und Schicksale – Kantoren bei St. Johannis

Seit 1554 sind die Kantoren der Johanniskirche lückenlos bezeugt. Oskar Kaul hat sie in seiner „Musikgeschichte der Freien Reichsstadt Schweinfurt“ (1933) aufgelistet. Kurt Frickel ergänzte diese Liste in der Festschrift zum 450. Reformationsjubiläum 1992.

37 Kantoren und 23 Organisten sind belegt. Nur einige markante Persönlichkeiten können hier genannt werden. Schon erwähnt wurde der erste Schweinfurter Kantor Jacob Rücker, der nach dem Stadtverderben 1554 nach Coburg ging. Sein Nachfolger Epiphanius Kürschner ist uns auch schon begegnet als Feind des Gemeindegesangs „dör alten Weiber“, als Adressat der „Dienstordnung“ von 1558, zuletzt als glückhafter Hochzeiter.

Sein Nachfolger Paul Rosa (eine Straße wurde nach ihm benannt) zeigte uns die herausgehobene gesellschaftliche Stellung des Kantors und Lateinlehrers. Paul Rosa muss eine bedeutende Persönlichkeit gewesen sein: dies beweist sein rascher Aufstieg bis zum Reichsvogt; erst jetzt gab er das Amt des Kantors auf.

Negative Beispiele dürfen wir nicht ganz verschweigen. Der nächste Kantor trug den vielversprechenden Namen „Gerhard“. Rat und Pfarrer waren aber mit ihm höchst unzufrieden, u. a. hielt er „die Knaben von der Schule ab und brauchte sie zur Haußarbeit an Statt der Mägde“, anstatt sie zu unterrichten, Nach zwei Jahren, 1580, wurde er verabschiedet. Er war der erste in einer Reihe von Versagern: W. Zeiß, P. Gerlach, Martin Herteli, alles keine Vorbilder für die Jugend, sondern „Muster an Trägheit und Faulheit“! Der Rat zeigte ihnen aber, „dass ihm das missfiel“.

Danach, gottlob, wieder tüchtige Kantoren, z. 13. Johann Meyer, der 30 Jahre lang sein Amt ausübte, 1632 – 1661, also auch in der Notzeit des Dreißigjährigen Krieges.

Kantor und Magister Christian Macht wurde 1658 Pfarrer in Sennfeld. Gelehrte Neigungen zeigte Antonius Englert, der das Kantorenamt abtrat, um sich ganz der Arbeit an der Schule widmen zu können, mit Erfolg, 1729 wurde er Rektor.

Der letzte Kantor alter Ordnung war Johann Paul Machleid. Er diente Kirche und Stadt ungewöhnlich lange, fast 50 Jahre, von 1756 bis 1804, also bis zum Ende der städtischen Unabhängigkeit.

Organisten

Die erste Orgel in der Johanniskirche ist 1570 bezeugt. In den Anfängen begleitete das Orgelspiel nur den Gesang der Kantorei. Die Gemeinde sang ihre, Choräle frei, auswendig – keineswegs alle Bürger konnten ja lesen. Erst im 17. Jahrhundert begleitet die Orgel den Gemeindegesang durchgehend.

Unter den 23 Organisten – die Liste ist lückenhaft – tritt Wolfgang Carl Briegel als bedeutender Musiker und Komponist hervor. Er schuf zahlreiche musikalische Werke, die auch in Schweinfurt fleißig gesungen wurden. 1650 wechselte Briegel, nach fünf Jahren in den Dienst des Herzogs Ernst des Frommen von Sachsen – Gotha. Frau Wößner hat im Pfarrarchiv eines seiner Werke entdeckt, das dort 340 Jahre lang schlummerte. Es wird beim Festgottesdienst am 9. Mai in der musikalischen und Textlichen Bearbeitung von Frau Wößner aufgeführt werden. Der ursprüngliche, barocke Text des Satzes beginnt mit den Worten: „Ich habe ritterlich gekämpfet, nun ist mein letzter Feind der Tod.“

Ein für die damalige Zeit kennzeichnendes Beispiel sei noch erwähnt. Der Organist Johann Weselius war ein begabter Musiker und Pädagoge, er verfasste ein musikalisches Lehrbuch „für die lateinische Schuljugend in der Kayserlich Freien Reichsstadt Schweinfurt“, das mehrere Auflagen erlebte. Der Rat entließ ihn, nicht wegen dienstlicher Schwächen, sondern wegen „Ehebruchs“. Weselius erhielt sogar Stadtverweis, da er es ablehnte, die schimpfliche öffentliche„Kirchenbuße” zu leisten. Sein Lehrbuch wurde lange weiter          verwendet, – enthielt also nichts Schädliches,

Schweinfurt und die Familie Bach

Noch ein Blick auf Kantoren besonderer Art – die Schweinfurter Linie der großen Musikerfamilie Bach. Kurt Frickel hat dieses Gebiet gründlich erforscht, – hier nur einige Notizen, Georg Christoph Bach, ein Bruder des Vaters des großen Thomaskantors, also ein Onkel Johann Sebastians, war der Begründer der „fränkischen Linie“ Bach. Er war Kontor und Lateinlehrer in Schweinfurt 1688 bis 1697, sein Sohn Johann Valentin Stadtmusiker und Obertürmer.

In dessen Sohn Johann Elias stellt sich die Verbindung zu Johann Sebastian Bach besonders intensiv dar. Denn Johann Elias hatte mehrere Jahre im Hause des Thomaskantors in Leipzig gelebt und war sein Leben lang dem großen Verwandten dankbar verbunden. Dies zeigen seine Briefe, von denen 244 im Entwurf erhalten sind. In ihnen geht es auch um persönliche Dinge, um Obstwein, um süßen Most aus den Schweinfurter Weinbergen für Johann Sebastian Bach, um Transportkosten. Am 2. 11. 1748 schreibt Johann Sebastian Bach an seinen Neffen. „Es ist freilich zu bedauern, dass die Entfernung unserer beyden Städte nicht erlaubt, persönlich einander Besuch abzu­statten.“ Die Reise Leipzig – Schweinfurt war zu beschwerlich, zu weit für den Thomaskantor, der zwei Jahre nach diesem Brief, 1750, das Zeitliche segnen wird.

So hat Johann Sebastian Bach unsere Stadt nie betreten, doch gehörte, dank seiner Verwandten, die Reichsstadt zu seinem weiteren Lebensumfeld.

Ein kleiner Sprung unsererseits nach Leipzig, zum Vergleich. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Kantoren waren ja im Prinzip überall gleich, sind aber bei Johann Sebastian Bach reicher dokumentiert. Es zeigt sich die bedeutende Position des selbstbewussten Thomaskantors in der Gesellschaft der reichen, lebendigen Messestadt, andererseits spürt man die Verstimmung Bachs über Unverständnis vor Seiten einer „wunderlichen und der Music wenig ergebenen Obrigkeit.“

Interessant sind Bachs Schwierigkeiten mit der Schule, der Pflanzstätte seines Sängernachwuchses. Ein Rektor Erhesti arbeitete bewusst gegen Bach, entzog ihm die besten Sänger, betrieb Gegenpro­paganda unter den Schülern – „Willst du auch ein Blerfiedier werden?“ fuhr er ein fleißig übendes Mitglied der Kantorei an. („Bierfiedler“ nannte man einen Wirtshausmusikanten.) So klagt Bach über unzureichenden Nachwuchs, „untüchtige Knaben“, die nicht in der Lage seien, seine Musiken aufzuführen, – von einem „drohenden Verfall“ der Kirchenmusik, Gegen Ernesti hat sich Bach schließlich doch durchgesetzt.

Solche Vorfälle und Klagen sind aus Schweinfurt nicht bekannt. Hierscheint zwischen Schule und Kantor Einigkeit bestanden zu haben. Sicher waren die Anforderungen an die jungen Sänger auch nicht so hoch wie in Leipzig. In Schweinfurt gab es keine h-moll-Messe, keine großen Passionen aufzuführen. Dies geschah bei uns erst in neuerer, in unserer Zeit. Davon später.

Welche Komponisten wurden denn von der Schweinfurter Kantorei aufgeführt?

Alte Notenverzeichnisse im Stadtarchiv geben Auskunft. Neben Namen, die mit ihrer Epoche vergingen und die nur noch der Musikhistoriker kennt, stehen Meister, deren Werk heute noch lebendig ist: Haßler, Praetorius, Schein, auch der katholische Orlando di Lasso, Buxtehude, Schütz, die Familie Bach, – nicht der große Johann Sebastian.

Ungewohnt wäre für uns die Besetzung der vielstimmigen Chöre, zwei bis drei Knaben pro Stimme. Es gab in der Regel keine großen Chöre, „Massenchöre“ wie heute, schon gar keine „gemischten“ – Frauen durften in der Kantorei nicht mitwirken, „das Weib schweige in der Gemeinde.“

Niemand im Saal wird mir widersprechen, wenn ich hinzufüge: „Dies war einer der schlimmsten lrrtümer jener Zeit.“

Andere musikalische Gruppen

Zur Abrundung ein rascher Blick auf die „weltliche“ Musik im alten Schweinfurt. Sie erscheint recht unbedeutend; das Berufsverzeichnis von 1803, am Ende der Reichsstadtzeit, nennt „6 Berufsmusiker“.

Dies waren die „Stadtpfeifer und Türmer“, die von der Stadt, übrigens über das „Kirchenamt“, besoldet wurden. Die Türmer gaben von den Türmen Signale – der „Obertürmer“ hauste auf dem Turm der Johanniskirche – , etwa bei Ausbrechen eines Brandes oder beim Herannahen feindlicher Heerhaufen. An hohen Festen erklangen die Choräle der Türmer über den Dächern der Stadt,

Die „Stadtpfeifer“ waren – was der Name an sich nicht erwarten lässt – sehr gut ausgebildete Musiker, die mehrere Instrumente beherrschen mussten. Bei festlichen Gottesdiensten wirkten sie mit „Pauken und Trompeten“ in der Kirche mit, waren dann also Teil der Kantorei.

Stadtpfeifer und Türmer erteilten auch Privatunterricht, denn auch in den Familien wurde musiziert, z. B. im Hause des Stadtarztes Grundler und seiner Gemahlin, der hochgebildeten Olympia Morata aus Ferrara, in der Brückenstraße, da, wo heute ihr Denkmal steht.

Das Ende der Kantorei alten Stils… Das 19. Jahrhundert

Unter den Schlägen der Französischen Revolution und Napoleons brach um 1800 das alte Heilige Reich deutscher Nation zusammen, und mit ihm ging auch die Selbständigkeit der Reichsstadt Schweinfurt unter. 1802 marschierten bayerische Truppen in Schweinfurt ein; die Königlich bayerische Zeit begann, Schweinfurt wurde bayerische Kreisstadt II. Klasse. Damit endete die Kantorei „alten Stils“ und auch die Einheit zwischen Kirche und Schule – nach 250 Jahren.

Auch das „Alumneum“ , die Pflanzstätte der Kirchenmusik, wurde aufgelöst. Freilich war noch eine Zusammenarbeit zwischen Schule und Kirche vorhanden: „Chorknaben“, 10 ausgesuchte Schüler des Gymnasiums, sangen in St. Johannis, freiwillig, gegen Entschädigung.

Die Leiter der Kirchenmusik bei St. Johannis im 19. Jahrhundert waren tüchtige Leute, besonders Großvater, Vater und Sohn der Familie Schneider, die in Folge die Kirchenmusik gestalteten.

Bezeichnend für den Wandel ist aber, dass keiner von ihnen Lehrer an der einst städtischen, nun staatlichen „Königlich bayerischen“ Schule war, sie waren allesamt Berufsmusiker.

So war Paul Friedrich Schneider bis 1866 Leiter der „Kirchenmusik“ an der St. Johanniskirche, dazu aber auch Dirigent des „Liederkranz“, Gesanglehrer an verschiedenen, auch privaten Schulen, Erster Musikmeister beim Schweinfurter Landwehrbataillon, Gründer des „Cäcilienvereins“, eines gemischten Chores, in dem – sehr modern – auch Frauen mitwirben. Für die Kirche komponierte Schneider das „Responsorium am Neujahrsabend“ (-Jesus Christus gestern und heute“), das heute noch gesungen wird.

Die bayerische Zeit brachte für die evangelischen Kirchen einschnei­dende Veränderungen. An die Stelle der 90 evangelischen Kleinkir­chen (jede kleine Herrschaft hafte ihre eigene Kirchenordnung, zum Teil ihr eigenes Gesangbuch gehabt ) trat nun die „Protestantische Kirche“ in Bayern, „Notbischof“ war nicht mehr der Rat der Stadt, sondern der katholische von Bayern.

Gottesdienstordnung, die ein Jahrhundert lang, bis 1954, Geltung hatte. Dies waren verlässliche Grundlagen für die Arbeit des Kirchenchors in einer Zeit, in der sich so vieles veränderte.

„Multikulturelles“ Kulturleben in der Stadt

Spürbar war der Wandel im Kulturleben der Stadt, auch der Musikpflege, die in der alten Zeit ja Domäne der Kirche gewesen war. Bürgerliche, „weltlicher‘ Vereinigungen traten hervor, als Beispiel diene uns der 1833 gegründete „Liederkranz“, ein Männerchor mit freiheitlich national-liberalen Zielsetzungen. Bezeichnend, dass dieser Chor nach der Revolution 1848 von den Königlich bayerischen Behörden verboten wurde,

Im 19. Jahrhundert hatte sich ein üppiges Vereinsleben in Schweinfurt entwickelt, Als sich im Jahre 1909 der Gymnasiallehrer Dr. Ludwig empört zeigte, dass sich kaum jemand für seine Gründung eines Historischen Vereins interessierte („nur materielle Interessen in dieser Stadt“), wies man ihn sanft darauf hin, dass es in dieser Stadt mit 20.000 Einwohnern bereits 165 Vereine gab. Dr. Ludwig gründete dann doch – sonst stände ich nicht hier. Wandel überall: die Hälfte der Bewohner der 1803 noch rein evangelischen Stadt war um 1900 bereits katholisch – durch Zuwanderung aus dem katholischen Umland.

Die Gottesdienste in der Johanniskirche blieben der Tradition verhaftet. Freilich gab es auch hier modische Strömungen. Bei der Vorstellung der neuen Orgel 1912- sie war stark auf das romantische Klangideal ausgerichtet – stand ein Werk von Franz Liszt auf dem Programm, dazu der „Chorfreitagszauber“ aus dem „Parzival“ Richard Wagners – allerdings auch Johann Sebastian Bach.

Bachs Werke waren, nach Jahrzehnten des Vergessens, der Miss­achtung, wieder in ihrer Größe erkannt worden. Erwähnt sei Felix Mendelssohn-Bartholdis Wiederentdeckung der „Matthäus-Passion“ 1829. Um 1900 vollzog sich unter dem Einfluss liturgischer Erneuerungs­bewegungen die Rückwende zur alten, großen Kirchenmusik lutherischer Tradition.

20. Jahrhundert. Blütezeit der Kantorei

In Schweinfurt begann eine Epoche, die man als die „Blütezeit“ der Kantorei bezeichnen könnte und die bis heute andauert.

Wir treten damit ein in eine uns sehr nahe Zeit, an die noch viele „lebendige Erinnerungen“ haben, – in eine Epoche, die früher für Geschichtsschreibung nicht geeignet da noch zu „frisch“, unabgeklärt betrachtet worden wäre, und für die viele von Ihnen, sehr verehrte Mitglieder der Kantorei und Gemeinde, „Zeitzeugen“ sind. Deshalb begnüge ich mich mit biographischen Skizzen aus „lebendiger Erinnerung“, wo nun auch Persönliches, Subjektives mit einfließen mag.

Diese Zeit beginnt für meine Generation mit Otto Steiner, im Hauptberuf Volksschullehrer, Organist bei St. Johannis seit 1911, Kantor seit 1923.

Otto Steiner – eine Legende. Wer ihm begegnete, wird ihn nicht vergessen. Ich begegnete ihm zuerst in den Erzählungen meiner Tante Frieda, der ältesten Tochter (von sechs Kindern) meines bereits erwähnten Großvaters Andreas Böhrn, Lehrer in Zell. Da tauchte ab und zu, zu Fuß von Schweinfurt kommend, ein junger, lebhafter Mann in Zell auf, besuchte seinen väterlichen Kollegen und Freund. Er hieß Otto Steiner.

Großvater war ein recht passabler Orgelspieler. „Da haben die beiden“, so meine Tante, „auf der Zeller Orgel musiziert, improvisiert, dazu gesungen, auch Lustiges floss mit ein – „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ – sie haben viel gelacht. Mutter hat’s nicht so gerne gehört, es war doch in der Kirche…“

Otto Steiner war, wie auch mein Großvater, ein Mann des Humors, der Selbstironie, er reimte gerne, im Stil Wilhelm Busch ähnlich:

„Ich bin der lustige Orgelmann / der obern Kirche St. Johann / und zwar ein etwas kleiner / mit Namen Otto Steiner.“

Mein Schulfreund Georg war musikalisch sehr begabt, ich bewunderte sein Klavier- und Geigenspiel, – er wählte später auch die Musik als seinen Beruf. Aus einem katholischen Elternhaus strengster Observanz stammend, sagte er doch öfters zu mir: „Nimm mich doch wieder einmal mit in eure Kirche, ich bejaht‘ es auch… Es ist unglaublich, was dieser Steiner kann, was da einfließt an Variationen und Einfällen, – fantastisch.“ Dann saß Georg in der Johanniskirche neben mir, lauschte mit schief gelegtem Kopf, stupste mich ab und zu an, deutete vorsichtig nach oben: „Hörst du das? Hörst du’s?

Unglaublich!“ Ich, musikalischer Durchschnitt, erfasste die Feinheiten meist nicht so ganz, verstand aber sehr wohl; „Das ist großartiges, ungewöhnliches Orgelspiet.“

Hinter Otto Steiners Maske des scherzenden, reimenden Sonderlings verbargen sich tiefer Ernst, großes Können, der Wille, Gott und der Gemeinde zu dienen, In seiner Sprache: „Jedoch des Künstlers schönste Zier / die ich zu nennen weiß / das ist: zu musizieren stets / zu Gottes Ehr und Preis.“

Auch in der Zeit des 3. Reiches, als man offiziell den Einsatz der Lehrerschaft mehr im nicht-kirchlichen, politisch-staatlichen Bereich wünschte, blieb Lehrer Steiner unbeirrt der Kantorei treu. Und als er mit seinen Schülern vor der Bedrohung des Luftkrieges aus Schweinfurt in den Itzgrund bei Coburg ausweichen musste und dort mit ihnen im Lager lebte, fand er stets Möglichkeiten, den Sonntagsgottesdienst in Schweinfurt zu gestalten. In jener Zeit war jede dieser Fahrten mühsam, zuletzt ‚wegen der Tieffliegerangriffe hoch riskant und lebensbedrohend. Herr Steiner, so der Bericht, war stets zur Stelle. Gottes Lob soll immer zu hören sein, auch und gerade in Zeiten der Not.

Kantor Steiner war aktiv bis 1952, – bereits 1936 war er Kirchenmusikdirektor geworden. Er gestaltete 130 kirchenmusikalische Aufführungen, hinterließ seinem Nachfolger eine Tradition, die ver­pflichtete.

Nach dem genialisch-eigenwilligen Otto Steiner betrat mit Kurt Weld ein Aristokrat die Bühne der Kantorei St. Johannis, er sollte sie ein Vierteljahrhundert lang, bis 1978, leiten und prägen. Kultiviert, mit der gewählten Sprache des gebildeten schlesischen Bürgertums – Herr Weld, geboren in Steinau an der Oder, entstammte einer alten Kantorenfamilie -, von ausgesuchter Höflichkeit, doch bestimmt und klar, mit großem Durchsetzungsvermögen, eiserner Arbeitskraft. In den vielen Jahren der Zusammenarbeit am Alexander-von-Humboldt-­Gymnasium, wo er ein Musikleben von unglaublicher Vielfalt gestaltete, vom Symphonieorchester bis zur Big Band, sah ich diesen Mann nie unbeherrscht, hörte von ihm kein lautes Wort, auch nicht in Krisensituationen… (Busunfall auf der Schottlandfahrt mit dem Schülerorchester, bei dem sich Herr Weld die Handwurzel brach.)

Ich bewunderte Herrn Welds Sicherheit, Beherrschtheit, die Ruhe, die er ausstrahlte. Das war nicht nur „gute Erziehung aus gutbürgerlichem Milieu“. Das kam von innen.

Für die Kantorei schienen die reichsstädtischen Zeiten in einem Punkt wiedergekehrt. Der Pädagoge Weld führte dem Kirchenchor aus seiner Schule eine Schar junger Sänger zu, den „Spatzenchor“. Als junger Lehrer hatte ich diese Gruppe in einem Raum nahe der Kirche zu beaufsichtigen, vor einer großen Aufführung, als Meister Weld noch mit dem Orchester arbeitete. Als der Kantor schließlich den Raum betrat, verstummte das Wispern und Tuscheln, alle blickten auf ihn, – wenige Handbewegungen, das Einsingen begann in rascher, eingespielter Folge, in prachtvoller Steigerung. Dann zogen die jungen Sänger, wie in alter Zeit, „zween und zween“, wohlgeordnet, von mir geleitet, „ohn‘ Geschwätz“, in die Kirche; bald mischten sich die hellen Stimmen in das große Gotteslob.

Es gibt eine Aufstellung der Werke, die Herr Weld und die Kantorei zur Aufführung brachten, von seiner eigenen Hand, kommentiert von Frau Wößner:

77 größere Kirchenmusiken, davon 51 Werke von Johann Sebastian Bach, d. h. 66 %. 32 der Bachwerke erklangen zum ersten Mal in Schweinfurt, darunter die h-moll-Messe, die Johannespassion, das Weihnachtsoratorium, das Magnificat.

Dazu Mozarts Requiem und die Krönungsmesse, der Messias von Händel, eine Bruckner-Messe.

Bedeutende künstlerische Leistungen der Kantorei, doch kein Konzertbetrieb. Herr Weld in einem Interview 1958:

„Gottesdienst hat kein Publikum, sondern eine Gemeinde…. Musik ist ein Glaubenszeugnis…kann sicher zum Glauben führen helfen. Dies ist neben dem Gotteslob Ziel aller geistlichen Musik.“

Der Chor der Kantorei war für Kurt Welcl „Abbild der Gemein­cle….Akademiker und Handwerker, Angestellte, Studenten, Haus­frauen, manchmal drei oder vier Mitglieder einer Familie… .singen in der Kantorei….in rührender Treue und Dienstbereitschaft….bringen Opfer an Zeit und Kraft.“

Bezeichnend ist es für Herrn Weld, dass er den Namen „Kantorei St. Johannis“, der seit 1803 nicht mehr verwendet wurde, wieder aufnahm, an die große Tradition des Thomaskantors anknüpfend.

Für Herrn Weld war der Gesang, das Musizieren der Kantorei „Gotteslob“. Mein Sohn, Schüler des Celtis-Gymnasiums, sang einige Jahre im Johannischor mit. Er erzählt: „Wenn das Abendläuten begann, bat Herr Weld den Diakon, das Abendgebet zu sprechen. In dem abendlichen Probenraum erklangen Tersteegens Worte: ,Ein Tag, der sagt´s dem andern / mein Leben sei ein Wandern / zur großen Ewigkeit. / O Ewigkeit, so schöne / mein Herz an dich gewöhne / mein Heim ist nicht von dieser Zeit.“

Augenblicke. Eindrücke, die man nicht vergisst, – auch mein nun über 50 Jahre alter Sohn nicht – und die denen zuteil wurden und werden, die mitwirken in der wunderbaren Gemeinschaft der Kantorei von St. Johannis.

Nicht vergessen sei, dass Herr Weld das erste ökumenische Kirchenkonzert in Schweinfurt gestaltete, zusammen mit dem Chor der Heilig-Geist-Kirche. Mit den Reformen der Nachkriegszeit war ja die deutsche Sprache in den katholischen Gottesdienst eingezogen, die Lieder eines Paul Gerhardt haben Aufnahme gefunden in den katholischen Gesangbüchern, werden, zusammen mit Chorälen anderer evangelischer Dichter, von den katholischen Christen gesungen. Herr Weld ging heraus aus den Berührungsängsten vergangener Zeiten in ein christliches Miteinander der beiden Kirchen in einer Stadt, in der der evangelische Bevölkerungsanteil mittlerweile nur noch ein Drittel ausmacht.

Von Thomas Kerzel, der 1978 die Kantorei übernahm, sprach Herr Weld immer mit Anerkennung und Freude. Herr Kerzel führte die Tradition der Kantorei fort, setzte dabei mit jugendlichem Schwung und Elan neue Akzente. Ein Beispiel: Die Aufführung von Haydns „Schöpfung“ im Theater der Stadt Schweinfurt.

Auch Kantor Kerze‘ führte seiner Kantorei, wie Herr Wald, junge Kräfte zu, denn er war, wie die alten Kantoren, zugleich Gymnasiallehrer, zuerst am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium, dann am Ceitis-­Gymnasium.

Der erste hauptamtliche Kantor war 1987 Hans-Dieter Schlosser. Er löste Herrn Kerzel und den angesehenen, verdienstvollen Organisten Armin Christ ab, – auch dieser war im Hauptberuf Pädagoge. „Christ und Web“ war in Schweinfurt lange Jahre ein Markenzeichen.

Es kann, wie schon bemerkt, nicht Aufgabe des Historikers sein, von Menschen und Dingen zu erzählen, die Sie, meine verehrten Damen, meine Herren, selbst erlebten und besser kennen als ich.

Nur noch einige Beobachtungen und Kommentare seien gestattet: Die Einrichtung einer hauptamtlichen Kantorenstelle der höchsten Stufe – einer sogenannte „A-Stelle“ – ist Indiz für die überdurch­schnittliche Bedeutung der Kantorei St. Johannis und ihrer Einrichtungen. Und eine entscheidende, allen eindrucksvoll vor Augen stehende Verbesserung dieser Einrichtungen war, in der Amtszeit von Kantor

Schlosser, der Erwerb und Einbau der großen Sandtrier-Orgel, welche die 1570 beginnende Reihe der Orgeln der Johanniskirche glanzvoll abschließt.

Lebendige Gegenwart

Auch vom Standpunkt des Historikers aus ist es eine bemerkenswerte, „buchenswerte“ (wie Thomas Mann sagen würde) Tatsache, dass 1998 eine Kantorin, Frau Andrea Balzer, die Nachfolge von Herrn Schlosser antrat, – die erste Frau in diesem Amt, dessen Geschichte wir hier in großen Zügen nachzuzeichnen versucht haben. Längst vorbei also die Urväterzeiten, in denen „das Weib zu schweigen hatte in der Gemeinde“. Ein Fortschritt, von ganzem Herzen zu bejahen im Blick auf die Leistung von Frauen in allen Arbeitsbereichen unserer Gemeinden!

Und selbst der grimmige Feind der Mitwirkung von „Weibern“ im Kirchengesang, Kantor Epiphanius Kürschner, würde wohl, – wenn er sehen könnte, was da heute geschieht – aufhorchen, staunen, zustimmen.

Ich begann diese Betrachtung mit dem Bild der Johanniskirche als eines Ortes der Stille, der Erinnerung, der Besinnung im Getriebe der Zeit.

In den letzten Wochen und Monaten wurde ich, als beauftragter „Chronist“ der Kantorei St. Johannis, meiner Pfarrei St. Lukas mit ihrem von mir bewunderten Kirchenmusikdirektor Gustav Gunsenheimer oft untreu, besuchte immer wieder Gottesdienste und andere Veran­staltungen in der Johanniskirche. Da erlebte ich, wie der hohe, stille Raum sich mit Leben erfüllte, zu atmen, zu klingen, zu strahlen begann.

Bei der Aufführung des „Deutschen Requiems“ von Brahms fand ich mich, zuerst missmutig, zwar weit vorne, doch direkt hinter dem Nordpfeiler des Querschiffes, das in seinen Formen hinabreicht in die Zeit dor großen Stauferkaiser „Hier kannst du jetzt eine Stunde lang mittelalterliche Steinmetzkunst an diesem Pfeiler studieren.“ Doch aller Missmut verflog, als die Aufführung begann. Zwar sah ich nicht die Instrumentalisten, aber dafür aus nächster Nähe die Sänger und Sängerinnen der Kantorei, und, fast von vorne, die Kantorin.

Ich war gefesselt von der Hingabe, der Konzentration der Sängerinnen
und Sänger, von der Schönheit des Gesanges, – und von dem hohen Ernst der Dirigentin, ihrem tänzerischen Temperament, ihrem mitreißenden Können.

Unvergesslich „Die Stunde des Verrats“ , als ergreifende Bilder, tiefschürfende Bildbetrachtungen umrahmt, überhöht wurden vom Gesang der Kantorei, und über allem die helle, strahlende Stimme der Kantorin, wie in alter Zeit, als es in der „Dienstordnung“ hieß, dass „der Kantor stets mitsingen muss,“ also nicht nur dirigieren soll.

Auch den nachösterlichen Gottesdienst „Quasimodogeniti“ durch­wehte stürmisch österlicher Geist von der Orgel her, und ich empfand, begriff die Worte von Herrn Dekan Luithardt in seiner Osterpredigt, dass diese Kirche nicht nur Ort der Stille, der Zuflucht, des Trostes sein solle, sondern auch ein Ort des Aufbruchs, ja eines „Aufstandes“ – eines Aufstandes des Lebens gegen den Tod, der Hoffnung gegen Verzweiflung und Traurigkeit, des Ungewöhnlichen gegen das Gewöhnliche, das uns im Leben oft binden und bannen will. (Ich zitiere sinngemäß, mit eigenen Worten.)

Das Signal zu diesem Aufbruch aber wurde und wird gegeben, der „Aufstand“ getragen von den Stimmen der singenden Gemeinde, geführt und erhöht vom Spiel und Gesang der Kantorei St. Johannis, in der Vergangenheit und heute „Gottes Lob“ verkündend, das nach dem Willen des Reformators „immer in der Kirche zu hören sein soll“.

Meine herzlichen Glückwünsche gelten der traditionsreichen, alten und doch ewig jungen Kantorei St. Johannis, um deren Zukunft uns nicht bange sein muss, gerade auch im Blick auf das „Würz- und Pflanzgörtlein“ der in guter Pflege heranwachsenden Kinder- und Jugendchöre.

ihnen aber, sehr verehrte Damen, meine Herren, sei Dank für die Aufmerksamkeit, mit der Sie mich auf dem langen, langen Weg durch viereinhalb Jahrhunderte verständnisvoll und geduldig begleiteten.